185 Lebenslanges Lernen

Lebenslanges Lernen
Photo by Simson Petrol

Liebe Zielgruppe,
wenn Peter Tauber, der Generalsekretär der Christlich Demokratischen Union, davon spricht, dass, wer etwas Ordentliches gelernt hat, nicht mehrere Minijobs gleichzeitig brauche, ist das zwar einerseits weit weg von den realen gesellschaftlichen Verhältnissen, andererseits aber spricht er nur das aus, was die mehr als große Koalition der Kapitalismus-Apologeten seit vielen Jahren pre-digt: wer den zunehmenden Unwägbarkeiten des Arbeitsmarktes begegnen will, muss lernen, lernen und nochmals lernen. Ein Leben lang.
Lebenslanges Lernen ist eines dieser Schlagworte, die suggerieren und suggerie-ren sollen, dass beruflicher und damit auch gesellschaftlicher Erfolg oder Miss-erfolg ausschließlich vom Verhalten des Individuums im kapitalistischen Ver-wertungszusammenhang abhängt.
Wer sich bildet oder weiterbildet, der bringt es zu etwas. Wer es zu nichts ge-bracht hat, ist selbst Schuld, weil er oder sie die Grundprinzipen der damit ein-hergehenden Notwendigkeiten nicht berücksichtigt hat.
Interessant an diesem Lern- und Pädagogik-Diskurs ist, dass ihn alle politischen Akteure – gleich welcher Couleur – mit dieser Ausrichtung führen.
Ob nun CDU, Sozialdemokraten, Linke oder Gewerkschaften: sie alle propagie-ren, dass Ausbildung und anschließende permanente Weiterqualifizierung Ga-rantie dafür seien, nicht durch die sozialen Maschen der kapitalistischen Gesell-schaft zu fallen. Dass diese Maschen immer löchriger werden, daran hat die So-zialdemokratie mit all ihren neoliberalen Projekten der jüngsten Vergangenheit einen nicht unerheblichen Anteil. Aber die Aushöhlung des Sozialstaats wollen sie in diesem Zusammenhang nicht thematisiert wissen.
Die Quintessenz dieser Ignoranz objektiver gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse bedeutet: wer sich dem Lerndruck verweigert oder sich nicht genü-gend anstrengt, ist an seinem dann folgenden Schicksal selbst Schuld.
Dabei unterscheiden sich die Ansätze der genannten Akteure nur in Nuancen. Die einen predigen in Verbindung mit neoliberalem Deregulierungsinteresse, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Die anderen fordern ein Quäntchen mehr sozialdemokratischen Versorgungsstaat mit Qualifizierungsgarantie. Für alle, die dies wollen.
Eine Ablehnung dieser Unvollkommenheitslogik, dass nämlich alle Individuen permanent an sich arbeiten müssen, sie also nie auch nur annähernd ausreichend qualifiziert sind, kommt bei allen genannten Gruppierungen nicht vor. Das ist auch nicht verwunderlich, denn dazu müssten sie das System Kapitalismus ver-stehen und auch noch fundamental kritisieren wollen.
Besonders sichtbar ist dieser Kollektivbetrug der hiesigen politischen Protago-nisten beim derzeitigen Dauerthema der Arbeitspolitik: der Digitalisierung.
Während sich die Produktionsbedingungen in fast allen Branchen rasant und massiv verändern, während nicht wenige Auguren mittelfristig ein dramatischen Verschwinden von Berufen und Jobs erwarten, kontern die besagten Politiker mit der Endlosschleife „Qualifizierung wird es schon richten“. Und das, obwohl eine ganze Reihe von gefährdeten Berufsbildern bereits von hochqualifizierten Marktteilnehmern geprägt ist.
Gleichzeitig hat sich in den letzten Jahren eine ganze Erwachsenenbildungsin-dustrie entwickelt, die die Bedingungen ihres Wirkens nicht hinterfragen will oder dazu nicht in der Lage ist.
Eine ganze Generation von im herkömmlichen Sinne gescheiterten Existenzen lebt heute davon, Kurse, Coachings und betreutes Leben anzubieten. Niemand ist perfekt, alle brauchen Optimierung, Widerstand ist zwecklos.

184 Das ist doch der Gipfel

Einer der besten, aber am häufigsten missbrauchten Knoten ist der Kreuzknoten oder Reffknoten. Als Bändselknoten zum Reffen oder Bergen von Segeln oder um Pakete zu verschnüren ist er von unschätzbarem Wert. Aber als Verbindungsknoten (um zwei Enden zusammenzubinden) hat der Kreuzknoten wahrscheinlich mehr Tote und Verletzte auf dem Gewissen als das Versagen eines halben Dutzends anderer Knoten zusammen. Bei falscher Belastung kippt der Kreuzknoten zum Ankerstich und kann zum „Würgen“ verwendet werden.
Unser Beitrag zum G20-Gipfeltreffen 2017 in Hamburg: ein Parforce-Ritt durch die bürgerliche Berichterstattung.

183 Populismus

Die Stunde der PatriotenLiebe Zielgruppe,

wenn man in einer polit-zotigen Stimmung wäre, könnte man glatt sagen, dass den bürgerlichen und in der Regel natürlich etablierten Parteien gerade der Arsch auf Grundeis geht. Und das europaweit. Die so genannten Populisten setzen ihnen massiv zu oder haben sie bereits aus der Regierungsverantwortung gekegelt.

Nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten geht vielen bürgerlichen Polit-Protagonisten auf, dass ihre Gestaltungsmacht auch in halbwegs stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen kein Selbstläufer mehr ist.

Die Wahlergebnisse in Frankreich versprechen da keine Linderung.

Alle, die nicht mit einem Bündnis mit den populistischen Bewegungen liebäugeln, machen sich Sorgen. Weniger, so müssen wir unterstellen, weil sie die teils neu-faschistischen Formierungen – als die sie diese aber nicht erkennen wollen –, inhaltlich ängstigen, als vielmehr, weil ihnen hier organisatorische Konkurrenz erwächst.

Inhaltlich fällt ihnen die jeweilige Abgrenzung in den Kernthemen der so genannten Populisten äußerst schwer. Gemeinsam mit der so genannten Zivilgesellschaft versuchen sich die selbsternannten Hüter von Demokratie und Wahrhaftigkeit schon beinahe verzweifelt in eine Wettbewerbs-auseinandersetzung zu begeben, die, würden sie es ernst meinen, ihre eigenen ideologischen Grundpfeiler mehr erschüttern müsste, als es derzeit zu erkennen ist.

Heribert Prantl, seines Zeichens Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und quasi das talkshow-erprobte zauselige Gesicht dieser Zivilgesellschaft, hat Mitte des letzten Jahres in seiner linksliberalen Tageszeitung die bürgerliche Verzweiflung und Ratlosigkeit, aber auch die Unfähigkeit zur selbstkritischen Reflexion auf den Punkt gebracht, als er sich unter der Überschrift „Mob und Mitte“ sowohl an einer Einordnung von AfD, Pegida, FPÖ & Co. versuchte, als auch eine beschämende ideologische Standortbestimmung der Demokratieverteidigung lieferte.

182 Warum ich kein Christ bin

Wenn ich behaupten würde, dass es zwischen Erde und Mars eine Teekanne aus Porzellan gäbe, welche auf einer elliptischen Bahn um die Sonne kreise, so könnte niemand meine Behauptung widerlegen, vorausgesetzt, ich würde vorsichtshalber hinzufügen, dass diese Kanne zu klein sei, um selbst von unseren leistungsfähigsten Teleskopen entdeckt werden zu können. Aber wenn ich nun weiterhin auf dem Standpunkt beharrte, meine unwiderlegbare Behauptung zu bezweifeln sei eine unerträgliche Anmaßung menschlicher Vernunft, dann könnte man zu Recht meinen, ich würde Unsinn erzählen. Wenn jedoch in antiken Büchern die Existenz einer solchen Teekanne bekräftigt würde, dies jeden Sonntag als heilige Wahrheit gelehrt und in die Köpfe der Kinder in der Schule eingeimpft würde, dann würde das Anzweifeln ihrer Existenz zu einem Zeichen von Exzentrizität werden. Es würde dem Zweifler, in einem aufgeklärten Zeitalter, die Aufmerksamkeit eines Psychiaters oder, in einem früheren Zeitalter, die Aufmerksamkeit eines Inquisitors einbringen.“ (Bertrand Russell, 1927)

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181 Hayır

hayırLiebe Zuhörerinnen, werte Zuhörer,
am 16. April 2017 werden in der Türkei ca. 55,3 Millionen Wahlberechtigte und fast 3 Millionen türkische Staatsbürger im Ausland über ein Referendum abstimmen, das den derzeitigen Präsidenten Erdogan faktisch zum Diktator machen soll. Das Referendum wird somit noch im Ausnahmezustand, der nach dem Putschversuch vom Juli 2016 verhängt worden war, stattfinden.

Da er selbst zu ahnen scheint, dass er hin und wieder sein Brüllvieh mit dem Volk verwechselt, wird unnachgiebig jeder gejagt, der auf der Straße für ein „hayır“, ein Nein, wirbt. „Der 16. April“, so Recep Tayyip Erdoğan, „wird die Antwort auf den 15. Juli sein.“
Die Konsequenz ist ersichtlich: „Diejenigen, die ‚Nein‘ sagen, stellen sich auf die Seite der Verschwörer des 15. Juli.“ Einer von Erdoğans Prosekutoren, Cevdet Kayafoğlu, droht indessen ganz explizit, dass jedes „Nein“ einer „Unterstützung der PKK“ gleichkäme – mit den entsprechenden juristischen Konsequenzen.

Diese Sendung basiert auf Texten von Elke Dangeleit und Mustafa Sönmez sowie dem Blog cosmoproletarian-solidarity.

180 Vodka-Cocktails

cocktail„Die historische Wissenschaft hat große Anstrengungen daran gewendet, die Vorgeschichte der Russischen Revolution, ihre Ereignisgeschichte im Ablauf des Jahres 1917 und schließlich die Konsequenzen der Revolution für die folgende Umformung Russlands zu erforschen und eingehend zu beschreiben.
Der gedruckte Ertrag dieser Arbeiten ist inzwischen fast unübersehbar geworden, und der Satz, wonach diese Revolution einen nicht wieder umkehrbaren Wendepunkt in der Geschichte Russlands markiert, bedarf längst keiner gelehrsamen Fußnote mehr.
Es versteht sich, daß hinter all diesen Bemühungen ein weitergehendes Interesse stand und steht, die Frage nämlich, wie dieser Wendepunkt russischer Geschichte in größere, über Russland hinausgreifende Zusammenhänge historisch einzuordnen sei.
Wer von den Begebenheiten nicht nur berichten, sondern zu Maßstäben und Urteilen kommen will, wird nach der Bedeutung dieser Revolution für die Weltgeschichte unserer Zeit zu fragen haben.
Das freilich ist ein weites Feld, und eine Antwort, derer man tatsächlich sicher bleiben dürfte, findet sich nicht leicht.“
Also sprach der Historiker Dietrich Geyer am 17. Oktober 1967 zum 50 Jahrestag der Russischen Revolution. Weitere 50 Jahre später lässt sich feststellen, dass dieser „Wendepunkt der russischen Geschichte“ alles andere als unumkehrbar und die „Bedeutung dieser Revolution für die Weltgeschichte“ dann möglicherweise doch geringer als erwartet / erhofft / befürchtet (Nichtzutreffendes bitte streichen) ist. Eine gewisse Ernüchterung hat sich eingestellt.

179 Come on

Gezi Direnişi - En özel fotoğraflar Quelle: Gezi Direnişi – En özel fotoğraflar

… während die bürgerliche Presse jedweder Schattierung behauptet, die Linke sei Schuld am Erfolg der Rechten, während sich das aufgeklärte Bürgertum den Kopf zermartert, was denn gegen den Populismus im allgemeinen zu tun sei, um den Faschismus im besonderen nicht erwähnen zu müssen, während das Feuilleton schier aus dem Häuschen ist, weil eine Biographie erläutert, dass die zu den Faschisten übergelaufenen Reste der französischen Arbeiterbewegung auch zu ihrer Hochzeit lebensweltlich nicht besonders fortschrittlich agiert haben, während der globale Wahnsinn sich an keiner Stelle auch nur einen Jota abmildert:
Stellen wir fest, dass es genau jetzt an der Zeit ist, auf die Reste emanzipatorischer Prinzipien zu bestehen, schlicht dem allgemeinen Wahnsinn, der allgegenwärtigen Regression eine Programmatik des Fortschritts, sowohl im technischen als auch gesellschaftlichen Sinne entgegenzustellen.

Wir brauchen in der Tat eine politische Intervention, deren Überschriften wir uns in den kommenden Sendungen widmen wollen.

Eine Intervention, die den moralischen Prinzipien des Atheismus, des Feminismus, des Kommunismus verpflichtet ist.

Eine derartige Programmatik müsste sich den Fragen der Ökonomie und damit der Kritik des kapitalistischen Verwertungsprinzips widmen, sie müsste sich mit gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigen, von der Desavouierung des regionalistischen Hinterwäldlertums bis hin zu Forderungen nach und Definition von sozialem Fortschritt.

Sie müsste sich in aller Schärfe mit religiösem Aberglauben und Wahn auseinandersetzen und auf die Errungenschaften der Aufklärung pochen.

Sie müsste Ideologiekritik wieder in den Fokus politischer Auseinandersetzung rücken und sich gegen Antisemiten, Nationalisten und Ethnopluralisten von rechts bis links positionieren und sie müsste ihrer Organisation nach supranational verfasst sein, also die Einschränkungen nationaler und völkischer Politikkonzepte zurückweisen und diese organisierte und gegebenenfalls sich sogar als wählbar anbietende Intervention müsste gleichzeitig der Versuchung widerstehen, sich das aktuelle Potential an kritischem Bewusstsein schön zu reden oder herbei zu fantasieren.

Lars Quadfasel, Mitglied der Hamburger Studienbibliothek, hat in der Zeitschrift konkret kurz nach der Trump-Wahl in den USA die Hinter- und Beweggründe einer derartigen – nennen wir sie: Volksentscheidung erläutert. Die beschriebenen Grundprinzipien sind ohne Probleme auf andere Gesellschaften übertragbar. …

178 Überall: Season 3

Ab Januar 2017 werden wir im Rahmen unserer monatlichen Produktionen endlich die Folgen der vierten und letzten Staffel „Überall – DIE Radionovela“ senden. Um euch allen den Anschluss zu erleichtern – immerhin liegt die Ausstrahlung der vorhergehenden Staffeln doch schon etwas zurück – bringen wir in dieser Stunde 17grad eine Zusammenfassung der 1. und 2. sowie die komplette 3. Staffel zu Gehör. Ihr wisst ja: Dies ist ihre Geschichte, und so oder so ähnlich trägt sie sich zu. Täglich. Überall.

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177 Rede auf drei Stühlen

Zu Gast bei 17grad: Ale Dumbsky, Ex-Schlagzeuger der Goldenen Zitronen und Gründer des Hamburger Labels Buback Tonträger. Der „Militante mittleren Alters sitzt in Hamburg und hat hier seine ‚Rede auf drei Stühlen‘ entwickelt. Er kann sich in einem Vortrag von Max Stirner, HSV Alt-Hooligans, nervigen Kreativlingen, Ulrike Meinhof, der österreichischen Straßenverkehrsordnung, William S. Borroughs bis hin zu anonymen italienischen Insurrektionalisten hangeln, ohne dass es blöd auffällt.“

Wir haben nachgefragt: ist das wirklich so oder sind dem Verfasser des Klappentextes hier die Gäule durchgegangen?

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176 Graue Wölfe

Faşizme geçit yok!

Während einem beim Diskurs um die deutsche Leitkultur an allen Ecken das reaktionäre Milieu seiner Wortführer entgegenschlägt, gibt es auch eine nicht ganz so auf deutsche Tradition rekurrierende Variante der Identitätspolitik. Bei dieser, dem essentialistischen Ethnopluralismus, fällt die Verortung deutlich schwerer, denn hier tummelt sich sowohl links als auch rechts.

Wie wir in unseren letzten beiden Sendungen unserer dreiteiligen Reihe bereits berichteten, finden wir bei dieser politischen Denkrichtung neben identitären Faschisten auch sich links wähnende Critical Whiteness-Apologeten, neben paternalistischen grünbürgerlichen Exotikfans auch linksreaktionäre Kulturrelativisten. Allen ist gemeinsam, dass sie Kulturen – nicht mehr Rassen – einen von ihnen definierten Raum zuweisen wollen. Auch im geografischen Sinne.

Diese Weltsicht droht – nicht nur im Zuge der in Europa diskutierten Fluchtbewegungen – hegemonial zu werden. Sie ist dabei kein Ideologieprivileg deutscher Identitärer, sondern wird allerorten vertreten und befeuert.

Während vor wenigen Jahren in linken Milieus noch der kulturelle Wandel zwischen den Welten und Zuschreibungen verhandelt wurde, geht es heutzutage um Abgrenzung, um Ausgrenzung, um Begrenzung. Dass die Preisgabe des emanzipatorischen Diskurses über die Abschaffung identitärer Konzepte dabei auf das Wohlwollen organisierter Faschisten trifft, ist nicht verwunderlich. Verwunderlich ist eher, dass die sich abzeichnende ideologische Melange auf Basis des Ethnopluralismus nicht schärfer kritisiert wird. Zumindest von Gruppen, die es besser wissen müssten.