122 Erinnerungskultur

Nachdem man den Ruf der Überlebenden des Holocaust nach 1945 geflissentlich überhört hatte, nachdem sie verstummten und erst Ende der 60er, Anfang der 70erJahre eine leise Bereitschaft in Teilen der deutschen Gesellschaft bestand, zuzuhören und sie anzuregen, über ihre persönlichen Schicksale zu berichten, erst da bekam das Grauen und Morden durch die persönlichen Berichte der Opfer ein vages Gesicht und die unermesslichen Zahlen der Massenmorde wurden zu konkreten Namen.

Wie sieht Gedenken an den Holocaust heute aus? Wie wird er bestimmt und von wem wie gedeutet? Gibt es siebzig Jahre nach der Wannseekonferenz, die den Massenmord, der ja schon längst stattfand, vortrefflich zu lenken und verwalten verstand, eine Deutungshoheit und wenn ja, wer bestimmt den Diskurs? Wird der Genozid, nach dem die letzten Zeitzeugen verschwunden sein werden, einfach eingereiht in die deutsche Geschichte, die ja nicht gerade arm an Massenabschlachtung ist? Oder anders gefragt, wie wird das millionenfache Morden dieses mit am besten dokumentierten und erforschten Völkermordes seinen Platz in der deutschen Geschichte einnehmen? Wie werden die Stehlen und Stolpersteine sich neben den zahlreichen Schlachtendenkmälern behaupten?


Wenn man beispielsweise Herrn Reich-Ranicki im Bundestag sieht, diesen kleinen gebeugten alten Mann, flankiert von den höchsten Repräsentanten des Staates, dreißig bis vierzig Jahre jüngeren großgewachsenen Deutschen, auch dann stellt sich die Frage nach der Deutungshoheit in der Zukunft. Welchen Stellenwert wird diese große bewegende Rede in der Geschichte der Bundesrepublik einnehmen? Welchen Platz bekommt dieses Zeugnis?

Mit dieser und ähnlichen Fragen beschäftigte sich die Ringvorlesung „Vergegenwärtigung von Erinnerung – Fragen und Antworten zum Gedenken an die Opfer der NS-Herrschaft“, welche in den vergangenen Monaten an der Uni Hamburg stattgefunden hat.
17grad traf sich mit Janne Delin, einer der Initiatorinnen dieser Ringvorlesung.

121 Wirtschaft

Die Krise des Kapitalismus und gängige Erklärungs- u. Deutungsansätze.

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,

die Krise geht auch an unserem Magazin nicht spurlos vorüber. Vor lauter Prognosen und Erklärungen zu vergangenen, jetzigen und zukünftigen Wirtschaftsthemen wird einem ja manchmal ganz schummrig. Kaum hat man sich mit Begriffen wir Credit Default Swaps und Derivaten angefreundet, kaum hat man die gängigen Erläuterungsmuster für Immobilienblasen und Bankenkrisen zumindest grob verstanden, da sind wir schon wieder im nächsten Schlamassel: die Aussichten sind trübe, das Wort Rezession geistert durch die Gazetten, von der Euro-Krise ganz zu schweigen.

Als Dienstleistungsradio für die systemkritische Mittelschicht wollen wir uns in der heutigen Sendung mit den momentan häufig kolportierten Erklärungs- und Deutungsmustern des kapitalistischen Ist-Zustandes in Deutschland und Europa beschäftigen. Denn bei allem medialen Tahouwabou gibt es doch täglich wiederkehrende Topoi, die – egal ob durch TV-Börsenentertainerin, Kabarettist oder Tageszeitungspraktikant – immer wieder an die Kunden gebracht werden.

Und weil dieses Thema von einiger wenn nicht gar essentieller Bedeutung ist, haben wir uns dafür heute einen Experten ins Studio eingeladen, der uns bei der Interpretation der Interpretationen behilflich sein soll.

120 Ein Titel sagt mehr als 100 Überschriften

Jahresendzeit ist Wunschzeit, auch bei der Hamburger Redaktion 17grad.
Nach langem internem Austausch von nicht erfüllbaren Wünschen wie „Gerechtes Grundeinkommen für alle“, „Bezahlbarer Wohnraum“, „Zauberformel, um das braune Gedankengut aus den deutschen Hirnen zu pusten“ usw., half nur noch das eine oder andere Bier.
Aber warum etwas Neues erfinden, fragten wir uns schließlich und griffen beherzt auf bewährte Sendeformate zurück.
Nicht „Deutschland sucht den Superstar“, sondern „17grad sucht die talentiertesten Nachwuchsstars für die Bretter, die die Welt bedeuten“.
Dabei herausgekommen ist ein echter Kracher:
Mit Hilfe von über 100 Buchautorinnen und -autoren gutenbergten wir einen bewegenden Prosatext, zimmerten daraus ein wegweisendes Bühnenstück zusammen und führten dieses sodann als Singspiel urauf.

Hören Sie heute „Ein Titel sagt mehr als 100 Überschriften“.

Denn: Wünsche sind Wünsche zum Wünschen … Gänsebraten frisst Wackelpeter … und nun Zeit für neues Bier.

119 Kalender

Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich im akademischen Betrieb die Diskussion über und die Analyse von popkulturellen Phänomenen findet:
Sei es im Bereich der Kommunikationswissenschaften die Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Implikationen von Buffy the Vampire Slayer,
sei es die medientheoretische Aufarbeitung diverser Star Trek-Reihen,
sei es die universitäre Debatte über Unterscheidungen und Schnittmengen der kulturtheoretischen Begriffe Subkultur und Mainstream.

An der Ludwig-Maximilian-Universität in München hat nun vor wenigen Wochen ein Kurs der vergleichenden Literaturwissenschaften begonnen, in dem sich unter anderem mit der Radionovella Überall der Redaktion 17grad beschäftigt wird.
Der verantwortliche Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Murke geht darin sowohl auf Grundmuster und Hintergründe der gerade als DVD-Edition erschienenen Hörspielreihe ein, erläutert darüber hinaus allerdings auch Aspekte und Interpretationen, die gegebenenfalls auf den ersten Blick bzw, beim ersten Hören nicht aufgefallen sind.
Für die heutige Sendung hat uns Prof. Dr. Murke das Script seiner ersten Vorlesung zur Verfügung gestellt, aus dem wir in der folgenden Stunde zitieren wollen.

118 Griechenland

Zahlmeister Deutschland – Schuldenknecht Griechenland.
So oder ähnlich klingt das gegenwärtige Narrativ über das Verhältnis der beiden Länder.
Im Zusammenhang mit gänzlich anderen Schulden verhandelte vom 12. bis 16. September 2011 der Internationale Gerichtshof in Den Haag über eine Klage Deutschlands, die zum Ziel hat, Entschädigungsansprüche von griechischen und italienischen NS-Opfern auszuhebeln.
Daher richten auch wir unsere Aufmerksamkeit heute auf Griechenland.
Wir sprachen mit einem Mitglied des AK Distomo, der als Rechtsanwalt einen der Betroffenen des Massakers von Distomo vertritt.
Er war als Beobachter bei den Verhandlungen in Den Haag dabei und wird darüber berichten.
Dieser Prozess ist nicht nur für alle Opfer von NS-Verbrechen von großer Bedeutung, er wird auch Auswirkungen auf Schadensersatzansprüche von Überlebenden heutiger Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit haben.

117 Sterne

Werte Zuhörerinnen und Zuhörer,

dass das kapitalistische Prinzip sich weltweit durchgesetzt hat, ist, das wissen Sie, monokausal nicht zu erklären. Genauso wenig wie weiland der Siegeszug des Videoformats VHS, obwohl es doch mit betamax ein wesentlich leistungsfähigeres gab. Oder: nehmen Sie die ebenfalls komplexe Welt der PC-Betriebssysteme, ein vielleicht noch näher liegendes Beispiel, wie irrational ab und an die Welt tickt. Quasi seit Jahrzehnten beherrscht mit Windows das schlechteste aller Operation Systems den Markt. Und das schlimmste: jetzt wo diese Welt etwas durcheinander gerät, zeichnet sich ja nicht etwa eine fundamentale Verbesserung ab, sondern mit Google erscheint die nächste monopolistische Grausamkeit am Horizont.
Aber zurück zum großen Ganzen. Wie soll unsereins mit dem alltäglich Wahnsinn, der ja nicht nur ein ökonomischer ist, umgehen, ohne depressiv, verrückt oder gänzlich lethargisch zu werden? Diese Frage bestimmt – Sie können es sich vorstellen – die Redaktionssitzungen im hübscher Regelmäßigkeit. „Prosa“ schallte es da beim letzten Zusammentreffen durch unsere üppigen Büroräume und nach dem ersten ungläubigen Staunen raunte eine andere Ecke des Think Tanks „Cortazar“ und niemand anderes.
Julio Florencio Cortazar, Neofantast, ein bisschen Surrealist, Konsument filterloser Zigaretten und Anhänger der kubanischen Revolution, erschuf im Jahr 1942, neun Jahre bevor er ins französische Exil ging, die Ihnen im Folgenden vorgetragene Geschichte „Die Sternenputzer“. Lehnen Sie sich zurück und schließen Sie die Augen. Aber bitte: vermeiden Sie das Blinzeln zwischendurch. Sie werden merken, warum.

116 Tabu

Sie kennen das Problem sicher auch: alle sprechen über Ihr Thema, und im Gemurmel der allgemeinen Debatte möchten Sie sich Gehör verschaffen. Sie vertreten zwar keinen neuen oder bisher vernachlässigten Standpunkt; in ihrem vehementen Streben nach Distinktionsgewinn und um den bereits existierenden Diskurs zu dominieren, fehlt Ihnen jedoch der notwendige entscheidende Kniff.
Herzlich willkommen zu einer weiteren Lektion aus unserer beliebten 17grad-Sendereihe „Ratgeber Lebenspraxis“. Unser heutiges Thema: „Der Tabubruch – ehedem geächtet, heute geachtet“.

115 Erich Mühsam

Liebe Zuhörerinnen, geschätzte Zuhörer: wenn jemand der ehemaligen Reichs- und heutigen nur –hauptstadt weniger zugetan ist als der Bayerischen, wenn einer Vegetarier und andere Abstinent- und Verzichtler verspottet, wenn er es schafft, sich sowohl mit anarchistischen als auch mit kommunistischen Organisationen zu überwerfen, ohne politischen Verve einzubüßen, dann kann das kein so schlechter Mensch sein. Gewesen sein, müsste man genauer sagen. Denn der Anarchist und gleichzeitige Bohemian Erich Mühsam wurde 1934 von den Nazis im KZ Oranienburg ermordet. Dieser Tage erscheint nun der erste Band seiner Tagebücher im Berliner Verbrecherverlag. Die Berliner Morgenpost nennt dies ein literarisches Mammutprojekt, immerhin sind insgesamt 15 Bände und damit ca. 7000 Seiten geplant. Wir nennen es – bodenständig wie wir sind – großartig, wollen aber, wenn es um den vollbärtigen Zausel aus Lübeck geht, der während der Münchner Räterepublik so einiges auf die Beine gestellt und unter die Tische getrunken hat, von der Prämisse der werbefreien Sendungen Abstand nehmen: Sie hören in der Folge eine Reklame in Reinkultur, eine Hommage an den Autor mit seinen eigenen Worten quasi. Kaufen Sie diesen und die folgenden 14 Bände. Und wenn Sie dann noch Barmittel übrig haben: Sie wissen ja, wo Sie unsere Spendenaktion „Pate 2.0“ im Netz finden.

114 Frontex

Offiziell als "Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen" bezeichnet, macht FRONTEX häufig im Zusammenhang mit Grenzschutzmaßnahmen zum Zweck der Verhinderung irregulärer Migration von sich reden. Wir gehen im Interview mit Bernd Kasparek, dem Mitherausgeber des Buches „Grenzregime“, der Frage nach der Rolle, Funktion und Praxis von FRONTEX im Rahmen des eruopäischen Grenz- und Migrationsregimes nach.

113 Die Mitleidsindustrie

Liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörer, wir begrüßen Sie zur 113ten Folge 17grad – Radio zur Anhebung des allgemeinen Wohlbefindens.
In unserer heutigen Sendung wollen wir uns einem Thema widmen, das uns Mitteleuropäern noch jedes Mal die Tränen in die Augenwinkel treibt. Wir wollen uns mit nichts weniger beschäftigen als mit dem weltweiten menschlichen Leid. Oder präziser gesagt: mit den Personen, mit den Initiativen und den Organisationen, die sich den Kampf gegen dieses Leid auf ihre Fahnen geschrieben haben. Wobei der Begriff „Kampf“ in diesem Zusammenhang dann doch eher unpassend zu sein scheint. Denn um gegen oder auch für etwas zu kämpfen, sollte man ja zumindest ansatzweise die Ursachen der Verhältnisse, gegen die man anzutreten vorgibt, analysiert und verstanden haben. Das kann man von den mannigfaltigen Organisationen und Initiativen, die weltweit gegen Hunger und Elend, gegen die Folgen von Katastrophen, Industrieunfällen und Kriegen antreten beziehungsweise diese Folgen einzudämmen versuchen, nicht immer behaupten.
Die Spendensammler, internationalen Helferkollektive, die karitativen Vereinigungen, die Hilfslieferservices und religiösen Unterstützerkomitees, sie alle sind schon aus Gründen des eigenen Raison d’être darauf angewiesen, dass fortwährend die medialen Bilder kolportiert werden, die einen ausreichenden Kapitalfluss für die gesamte Wertschöpfungskette der Hilfsökonomie sicherstellen.
Linda Polmann schreibt in ihrem Buch „Die Mitleidsindustrie“:

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