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179 Come on

Gezi Direnişi - En özel fotoğraflar Quelle: Gezi Direnişi – En özel fotoğraflar

… während die bürgerliche Presse jedweder Schattierung behauptet, die Linke sei Schuld am Erfolg der Rechten, während sich das aufgeklärte Bürgertum den Kopf zermartert, was denn gegen den Populismus im allgemeinen zu tun sei, um den Faschismus im besonderen nicht erwähnen zu müssen, während das Feuilleton schier aus dem Häuschen ist, weil eine Biographie erläutert, dass die zu den Faschisten übergelaufenen Reste der französischen Arbeiterbewegung auch zu ihrer Hochzeit lebensweltlich nicht besonders fortschrittlich agiert haben, während der globale Wahnsinn sich an keiner Stelle auch nur einen Jota abmildert:
Stellen wir fest, dass es genau jetzt an der Zeit ist, auf die Reste emanzipatorischer Prinzipien zu bestehen, schlicht dem allgemeinen Wahnsinn, der allgegenwärtigen Regression eine Programmatik des Fortschritts, sowohl im technischen als auch gesellschaftlichen Sinne entgegenzustellen.

Wir brauchen in der Tat eine politische Intervention, deren Überschriften wir uns in den kommenden Sendungen widmen wollen.

Eine Intervention, die den moralischen Prinzipien des Atheismus, des Feminismus, des Kommunismus verpflichtet ist.

Eine derartige Programmatik müsste sich den Fragen der Ökonomie und damit der Kritik des kapitalistischen Verwertungsprinzips widmen, sie müsste sich mit gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigen, von der Desavouierung des regionalistischen Hinterwäldlertums bis hin zu Forderungen nach und Definition von sozialem Fortschritt.

Sie müsste sich in aller Schärfe mit religiösem Aberglauben und Wahn auseinandersetzen und auf die Errungenschaften der Aufklärung pochen.

Sie müsste Ideologiekritik wieder in den Fokus politischer Auseinandersetzung rücken und sich gegen Antisemiten, Nationalisten und Ethnopluralisten von rechts bis links positionieren und sie müsste ihrer Organisation nach supranational verfasst sein, also die Einschränkungen nationaler und völkischer Politikkonzepte zurückweisen und diese organisierte und gegebenenfalls sich sogar als wählbar anbietende Intervention müsste gleichzeitig der Versuchung widerstehen, sich das aktuelle Potential an kritischem Bewusstsein schön zu reden oder herbei zu fantasieren.

Lars Quadfasel, Mitglied der Hamburger Studienbibliothek, hat in der Zeitschrift konkret kurz nach der Trump-Wahl in den USA die Hinter- und Beweggründe einer derartigen – nennen wir sie: Volksentscheidung erläutert. Die beschriebenen Grundprinzipien sind ohne Probleme auf andere Gesellschaften übertragbar. …

176 Graue Wölfe

Faşizme geçit yok!

Während einem beim Diskurs um die deutsche Leitkultur an allen Ecken das reaktionäre Milieu seiner Wortführer entgegenschlägt, gibt es auch eine nicht ganz so auf deutsche Tradition rekurrierende Variante der Identitätspolitik. Bei dieser, dem essentialistischen Ethnopluralismus, fällt die Verortung deutlich schwerer, denn hier tummelt sich sowohl links als auch rechts.

Wie wir in unseren letzten beiden Sendungen unserer dreiteiligen Reihe bereits berichteten, finden wir bei dieser politischen Denkrichtung neben identitären Faschisten auch sich links wähnende Critical Whiteness-Apologeten, neben paternalistischen grünbürgerlichen Exotikfans auch linksreaktionäre Kulturrelativisten. Allen ist gemeinsam, dass sie Kulturen – nicht mehr Rassen – einen von ihnen definierten Raum zuweisen wollen. Auch im geografischen Sinne.

Diese Weltsicht droht – nicht nur im Zuge der in Europa diskutierten Fluchtbewegungen – hegemonial zu werden. Sie ist dabei kein Ideologieprivileg deutscher Identitärer, sondern wird allerorten vertreten und befeuert.

Während vor wenigen Jahren in linken Milieus noch der kulturelle Wandel zwischen den Welten und Zuschreibungen verhandelt wurde, geht es heutzutage um Abgrenzung, um Ausgrenzung, um Begrenzung. Dass die Preisgabe des emanzipatorischen Diskurses über die Abschaffung identitärer Konzepte dabei auf das Wohlwollen organisierter Faschisten trifft, ist nicht verwunderlich. Verwunderlich ist eher, dass die sich abzeichnende ideologische Melange auf Basis des Ethnopluralismus nicht schärfer kritisiert wird. Zumindest von Gruppen, die es besser wissen müssten.

174 Identität und Wahn

Good Night White Pride2012 noch war die so genannte Identitäre Bewegung (kurz IB) vor allem ein Internetphänomen. Die schwarz-gelben Ortsgruppen sprossen in den sozialen Netzwerken wie Pilze aus dem Boden. Im Vergleich mit den Verbündeten aus Frankreich und Österreich erschien die IB Deutschland allerdings lange Zeit marginal. Ihr alternatives Auftreten, geprägt von der Adaption linker Subkultur (Flashmobs, Mobilisierungs-Videos, Aufkleber) jedoch fiel auf. Die Süddeutsche Zeitung nannte sie den „popkulturellen Arm der Rechtsextremen“, die Welt bezeichnete sie jüngst als „rechte Hipster“.
Doch das Auftreten der Identitären Bewegung Deutschlands hat sich verändert. Ihre Aktionen werden expliziter. Immer öfter trauen sie sich mit aggressivem Aktionismus aus ihrer virtuellen Komfortzone auf die Straße heraus.

172 Safe Spaces

Safe SpacesDie aktuelle konservative Revolution berauscht sich an sich selbst. Die Protagonisten scheinen fast überwältigt von den eigenen Möglichkeiten, von der auch für sie überraschenden Wirkmächtigkeit. Überall und allenthalben werden jene angeblich hegemonialen gesellschaftlichen Machtverhältnisse alt- und neulinker Provenienz entdeckt, die es ihnen zu bekämpfen, zu schleifen, zu enttabuisieren gilt.
Endlich aufräumen mit der Political Correctness, endlich Schluss machen mit emanzipatorischen Grundstrukturen, seien diese wiederum noch so elendig, albern oder bigott.
Der moderne Konservativismus in seinem antiaufklärerischen Furor beklagt die Post-68er-Dekaden, jammert über moderne Pädagogik, will alles, was man für Gutmenschentum hält, hinwegfegen, strebt eine Abkehr von egalitären gesellschaftspolitischen Konzepten und Entwürfen an.
Man wurde – so geht die Historien- und Gegenwartsbeschreibung – von Linken im allgemeinen mit idiotischen Gesellschaftsvorstellungen drangsaliert, in seiner kollektiven und individuellen Entwicklung gehemmt und damit einer Gesinnungsdiktatur ausgesetzt, die die Kategorien von Fortschritt und Reaktion schlicht auf den Kopf gestellt habe.
Und in der Tat muten ja einige Beschreibungen angeblich aktueller Diskurse recht ulkig an, sie schreien förmlich nach adäquater Polemik. Ist diese dann noch unterhaltsam formuliert, können sich vor Lachen schon mal die Balken biegen.
Die Zeitung „Die Welt“ beispielsweise machte vor kurzem ein vermeintlich neues, zunächst an US-amerikanischen Universitäten stattfindendes, diskursives Schlachtfeld aus: die Debatte um die so genannten Safe Spaces, also Rückzugsräume für Gruppen, die sich ausgegrenzt und unterdrückt wähnen und dies auch als kollektives und gegebenenfalls konstituierendes Moment diskutieren.

168 Zombies

ZombieWerte Zuhörerinnen und Zuhörer,
im März 2014 sendete unsere Hamburger Redaktion ein Kammerspiel in 4 Akten unter der Überschrift „Radio Z“. Der in dieser Sendung verbreitete Schrecken über eine in Echtzeit stattfindende Zombie-Apokalypse schien vielen von Ihnen so real, dass wir noch während der Ausstrahlung eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Anrufen und E-Mails und darüber hinaus im Nachgang den renommierten Orson Wells-Preis verliehen bekamen.
Wir wollen Ihnen heute den kulturindustriellen Komplex unserer immer wiederkehrenden Beschäftigung mit diesem Thema erläutern und verweisen dabei auf das zugrunde liegende Werk „Krisenideologie – Wahn und Wirklichkeit spätkapitalistischer Krisenverarbeitung“ des Autors Thomasz Konicz, erschienen im Telepolis Verlag.

164 Flucht

Flucht

Liebe Mitmenschen, wir rieben uns in den letzten Wochen und Monaten dann doch die Augen, glaubten unseren Ohren nicht mehr uneingeschränkt und diskutierten darauf hin – durchaus kontrovers – Einschätzungen dessen, was sich da und dort vor unseren Wahrnehmungsorganen abspielte. Denn natürlich lässt es auch uns, die Münchner Redaktion der 17grad, nicht kalt,

  • wenn am hiesigen Hauptbahnhof Tausende von Menschen aus Kriegsgebieten anlanden,
  • wenn diese ausnahmsweise nicht zügig in Abschiebehaft genommen oder anders drangsaliert werden.
  • wenn verwaltungstechnische Abläufe nicht mehr greifen
  • wenn sich spontan Hilfe Leistende organisieren, um die Ankommenden mit dem unter Umständen Nötigsten zu versorgen
  • wenn der örtliche sozialdemokratische Oberbürgermeister herbei eilt, um Hilfe an- und Lob aufzubieten.

 

Gleichzeitig kommt man natürlich auch ein wenig ins Grübeln und ist, mal mehr, mal weniger irritiert

  • wenn den Ankommenden applaudiert wird, als hätten sie am Halbmarathon der Bayerischen Versicherungen teilgenommen
  • wenn sich Antifa und Polizei gegenseitig für die gute Zusammenarbeit loben, die ersten gar glauben, die zweiten könnten sich ein Nichtkooperieren auf Grund des Drucks aus der Bevölkerung gar nicht leisten
  • wenn ausgerechnet die nicht eben als links geltende Zeitung „Die Welt“ den Druck der deutschen Bundeskanzlerin auf die Länder an den EU-Außengrenzen thematisiert und vor einem deutschen Gutmenschen-Imperialismus warnt, gleichzeitig auf die Verantwortung Deutschlands für die Dublin-Verträge hinweist
  • wenn ausgerechnet die nicht eben als links geltende Zeitung „FAZ“ die klügsten Fragen zu Motivation und Perspektive aller Beteiligten stellt
  • wenn sich der Münchner Hauptbahnhof in einen Exotenmarkt verwandelt, auf dem paarungswillige deutsche Single-Frauen mittleren Alters nach männlichen Objekten der Begierde Ausschau halten, für die sie normalerweise in die Karibik fliegen müssen.


162 Geld

GeldnotenGWG-Strich, das woll’n wir nicht! Diese Quintessenz antikapitalistischer Wertkritik in Verbindung mit den Ausführungen von Karl Marx zum Fetisch des Geldes, so meinten wir bisher, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, müsste als ideologisches Rüstzeug ausreichen, um das kapitalistische System kritisieren und im besten Fall bekämpfen zu können. Mehr und mehr kommen wir allerdings zu der Überzeugung, dass wir uns, um eine derartige Handlungsperspektive zu erarbeiten, auch mit dem Ding, mit dem Fetisch an sich beschäftigen müssen. Eine quasi materielle Ergänzung der materialistisch zu führenden Debatte also. Folgen Sie uns in den kommenden 60 Minuten zu dem Material des Äquivalents, in die Geschichte und Gegenwart des Geldscheins an sich, nicht für sich.

160 Feiertage

China SpringfestivalLiebe Zuhörerinnen und Zuhörer, gegebenenfalls haben Sie es noch gar nicht mitbekommen: am 20. Juni gedenken die Deutschen fortan jedes Jahr der, wie das Bundesministerium des Inneren schreibt, „weltweiten Opfer von Flucht und Vertreibung und insbesondere der deutschen Vertriebenen“. Weiter erklärt die deutsche Bundesregierung, dass sie mit diesem Datum an den Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen anknüpfen und das Flüchtlingsgedenken um das Schicksal der Vertriebenen erweitern will.
Im Sinne eines aufgeklärten Geschichtsrevisionismus erwähnen die Verantwortlichen natürlich den Holocaust, wenn sie ihn auch nicht so benennen. Der 2. Weltkrieg ist laut BMI sehr wohl von Deutschland ausgegangen und die Juden landeten am Ende im Vernichtungslager. Aber, wieder Zitat: „Auch Millionen Deutsche mussten schließlich aufgrund von Flucht, Vertreibung, Zwangsumsiedlung und Deportation ihre angestammte Heimat verlassen.“
Und während wir in der Redaktion noch darüber nachdachten, wie wir dieses offensichtliche geschichtliche Patt gebührend begehen könnten, fiel uns ein interessantes Büchlein aus dem Verbrecher Verlag in die Hände, das uns dabei half, die generelle Funktion derartiger Gedenktage zu verstehen und uns gleichzeitig davor bewahrte, uns weiter mit diesem, nennen wir es vorsichtig: eigenwilligen deutschen Geschichtsverständnis auseinandersetzen zu müssen.
In dem empfehlenswerten Band „Umkämpfte Vergangenheiten – Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum“ schreibt der Regensburger Professor für Geschichte Südost- und Osteuropas, Ulf Brunnbauer, im Vorwort:

158 Hyperfiction

HyperfictionDas Internet eröffnet einen Freiraum für poetische Experimente jenseits von kanonischen Begrenzungen.
Hyperfiction nennt sich denn die neue Literatur, die diese Möglichkeiten der digitalen Medien auszuprobieren gewillt ist. Ihr Kernstück sind die Hyperlinks. Mit einem Mausklick auf ein beliebiges, vorab definiertes Zeichen lässt sich flugs ein neuer Text aufrufen und auf dem Bildschirm einblenden. Es ist, als ob eine Seite umgeblättert würde, doch die sprunghafte Beweglichkeit der Hyperlinks verleiht dem Text die Gestalt einer vielschichtig gewobenen Textur.

Offene Textstrukturen sind nichts Neues in der Literaturgeschichte. Seit langem schon experimentiert die Avantgarde mit Formen der literarischen Sprengung. „Ecriture automatique“, konkrete Poesie (Max Bense), Cortazars Rayuela-Roman sind Beispiele dafür, wie lineare Erzählmuster und Textstrukturen aufgebrochen werden können.

Mit dem digitalen Code erhalten diese Experimente freilich eine neue Qualität. Der Text wächst nicht mehr kontinuierlich, sondern wuchert in alle Richtungen über die Zeilen und Seiten hinaus. Hyperlinks legen auseinanderstrebende narrative Pfade durch ein Textkorpus und ermöglichen, ja provozieren so alternative Lesarten. Die Lektüre wird dynamisch. Und sie wird gestisch. Lesende oder Klickende suchen sich einen je eigenen Weg, um ans „Ende“ ihres Textes zu gelangen, das heißt, sie lesen sich je unterschiedliche Geschichten zusammen aus einem verwirrenden Sample von Texten, die untergründig durch sich verzweigende und wieder vereinigende Pfade zusammengehalten werden. Im Prozess dieser springenden, volatilen Lesart weicht die „akribische“ der „anekdotischen“ Lektüre, wie es Roland Barthes avant la lettre genannt hat. Je raffinierter die Hyperlinks gesetzt sind, desto vielfältigere Lesarten werden möglich. Je mehr unwillkürliche Wiederholungen sich ergeben, desto langweiliger liest sich eine Hyperfiction….

Image: © Cem Czerwionke